Drei Fragen an Leonore Riitsalu

Leonore Riitsalu erforscht mit Leidenschaft menschliches Verhalten und finanzielles Wohlbefinden. In ihrer Rolle als Wissenschafterin leitet sie mehrere international besetzte Forschungsteams mit dem Schwerpunkt finanzielles Wohlbefinden. Außerdem lehrt sie zum Thema Verhaltensforschung in der Politik an der Universität Tartu in Estland. Als Gründerin von Nügila und als Beraterin unterstützt sie Politiker:innen und Institutionen des Finanzsektors dabei, Erkenntnisse aus der Verhaltungsforschung auf Maßnahmen zur Stärkung des finanziellen Wohlbefindens in Europa anzuwenden. Leonore war unter anderem als Beraterin der OECD und als Mitglied des Beirats der saudischen Zentralbank tätig. Ihre Forschungsergebnisse erscheinen in bedeutenden wissenschaftlichen Zeitschriften, darunter Nature Human Behaviour, dem Journal of International Marketing und dem Journal of Economic Psychology.

Leonore leitete auch unser einzigartiges Projekt zur Erforschung des finanziellen Wohlbefindens mit dem Titel »Ein personenzentrierter Ansatz zur Steigerung des finanziellen Wohlbefindens von Einzelpersonen und Gesellschaften«, das in einer Zusammenarbeit zwischen der ERSTE Stiftung und der Universität Tartu mit Unterstützung der Erste Group durchgeführt wurde. Zudem ist sie Beiratsmitglied von FLiP, dem Open Future Lab und der Nadace České spořitelny.

ERSTE Stiftung Was bedeutet finanzielles Wohlbefinden und warum wollten Sie dieses Phänomen gemeinsam mit uns erforschen?

Leonore Riitsalu Auf den ersten Blick erscheint die Frage danach, was finanzielles Wohlbefinden eigentlich ist, beinahe albern. Man könnte meinen, dass die Antwort offensichtlich sei: Es bedeutet entweder ausreichend Vermögen zu haben oder die Abwesenheit von Schulden und finanziellen Problemen. Tatsächlich steckt jedoch wesentlich mehr dahinter. Als ich 2008 meine Tätigkeit für die estnische Finanzaufsichtsbehörde aufnahm, hatte die OECD gerade erst mit der Arbeit an ihrer Empfehlung für finanzielle Bildung begonnen. Im selben Jahr wurde auch das Internationale Netzwerk für Finanzbildung (INFE) eingerichtet.

Damals herrschte die Annahme vor, dass bessere Finanzkompetenz automatisch zu mehr finanziellem Wohlbefinden führen würde. Erst vor wenigen Jahren begannen Forscher:innen, Zweifel an dieser Vorstellung anzumelden, und Ende letzten Jahres veröffentlichte die OECD die erste Policy Note über finanzielles Wohlbefinden. Mittlerweile weiß man, dass diese anfänglichen Vorstellungen naiv waren.

In meinem ersten wissenschaftlichen Artikel zum finanziellen Wohlbefinden, der 2019 veröffentlicht wurde, kam ich zum Schluss, dass subjektives finanzielles Wissen – also die Selbsteinschätzung, über ausreichend finanzielles Wissen zu verfügen – ein wesentlich besserer Indikator für finanzielles Wohlbefinden ist als objektiv nachweisbares Finanzwissen. Dieser Artikel ist mit bisher 250 Zitierungen bis heute mein am stärksten rezipierter Forschungsbeitrag. Darauf aufbauend tauchte ich tiefer in die Materie der Definitionen, Messung und Vorläufer von finanziellem Wohlbefinden ein. Nachdem ich ein Forschungsprojekt für die ING Bank und die Think Forward Initiative abgeschlossen hatte, in dem wir das finanzielle Wohlbefinden in 16 Ländern untersucht hatten, erkannte ich, dass wir immer noch viel zu wenig darüber wussten, was finanzielles Wohlbefinden eigentlich ist und wovon es beeinflusst wird.

Meine Beschäftigung mit diesen Forschungslücken machte mir klar, dass es einen echten Paradigmenwechsel brauchte und nicht bloß eine weitere Umfrage. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich eine solch umfangreiche Unternehmung bewerkstelligen sollte. Im Jahr 2021 besuchte ich erstmals das European Forum Alpbach als Teilnehmerin und Vortragende in einem Seminar über Finanzbildung. Philip List, der Leiter des Erste Financial Life Park (FLiP), stellte mir dort Boris Marte vor, den CEO der ERSTE Stiftung.

Noch bevor ich ihm meine Gedanken zu der hochkomplexen Materie des finanziellen Wohlbefindens darlegen konnte, überraschte er mich mit einem flammenden Appell dafür, die Lücken im Verständnis von finanziellem Wohlbefinden zu schließen und Wege zu finden, es zu verbessern. Es war ein magischer Moment: Da sprach jemand über genau die Themen, über die ich mir schon so lange den Kopf zerbrochen hatte – bloß aus der Perspektive des Finanzsektors. Das Ergebnis ist bekannt: Wir beschlossen, uns zusammenzutun und ein einzigartiges Forschungsprojekt auf die Beine zu stellen.

Um aber auch in aller Kürze auf die Frage zu antworten, worum es bei finanziellem Wohlbefinden geht: um ein Leben ohne Sorgen. Es geht darum, das Leben jetzt und in der Zukunft genießen zu können. Das bedeutet nicht zwangsläufig, wohlhabend zu sein. Nicht jeder Mensch legt Wert auf dieselben Dinge, und dieser Diversität muss Rechnung getragen werden. Unterschiedliche Lebensstile, Lebensphasen, Werte und viele andere nicht-finanzielle Aspekte beeinflussen allesamt das finanzielle Wohlbefinden.

Unser Resümee nach 630 Interviews in sieben europäischen Ländern war, dass es einen gemeinsamen Nenner für finanzielles Wohlbefinden gibt: Alle Menschen streben nach Sicherheit, Freiheit und Genuss – den drei Dimensionen des finanziellen Wohlbefindens. In welchem Ausmaß und Verhältnis zueinander diese Dimensionen ausgeprägt sein müssen, ist individuell: Es gibt nicht den einen Wert oder die eine Diagnose, die auf alle Menschen zutrifft.

ES Wie können Menschen und die Gesellschaft als Ganzes nun von den Ergebnissen dieser Studie profitieren?

LR Obwohl unsere gemeinsame Arbeit der wissenschaftlichen Forschung gewidmet war und nicht der angewandten Forschung oder einer Beratungstätigkeit für die Banken, gelang es uns, basierend auf unseren Forschungsergebnissen ein praktisches Tool zu entwickeln, das von großem Nutzen für die Menschen ist. Es handelt sich dabei um ein digitales Tool, mit Hilfe dessen die Anwender:innen aus einer dreidimensionalen Perspektive über ihr finanzielles Wohlbefinden nachdenken können. Dabei werden unter dem Gesichtspunkt von Sicherheit, Freiheit und Genuss verschiedene Aspekte und Entscheidungen reflektiert, die weit über finanzielle Faktoren hinausgehend das Leben beeinflussen.

Das Ergebnis ist weder Urteil noch Wertung. Vielmehr handelt es sich um einen Überblick über all jene Dinge, denen der oder die Anwender:in einen positiven, neutralen oder negativen Effekt auf die verschiedenen Elemente des finanziellen Wohlbefindens beimisst. Natürlich lassen wir die Anwender:innen mit diesen Informationen nicht allein. Das Tool hält Ratschläge in Bezug auf Dinge bereit, die man eventuell ändern möchte, und es bietet auch die Möglichkeit, sich Ziele für die Zukunft zu setzen.

Außerdem bieten wir den verschiedenen Akteuren des gesamten Ökosystems des finanziellen Wohlbefindens, wie Banken, Politiker:innen, NGOs und wissenschaftlichen Einrichtungen, eine umfangreiche Liste von evidenzbasierten Vorschlägen dazu, wie sich die drei Dimensionen des finanziellen Wohlbefindens verbessern lassen. Finanzielles Wohlbefinden muss stets aus einer menschlichen Perspektive betrachtet werden, anstatt in einem Top-down-Ansatz Menschen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben und welche Dinge sie wertschätzen sollen. Des Weiteren müssen die bisher getroffenen Annahmen (wie z. B., dass Finanzbildung automatisch das finanzielle Wohlbefinden verbessert) auf den Prüfstand gestellt und rigoros durchleuchtet werden.

Es ist uns ein großes Anliegen, zu unterstreichen, dass nicht die Welt der Finanzen mit Hilfe von Finanzbildungsmaßnahmen für die Menschen übersetzt werden muss, sondern wir umgekehrt die unterschiedlichen menschlichen Lebenswelten für die Akteure im Bereich des finanziellen Wohlbefindens übersetzen müssen. Erst wenn das geschehen ist, können wirksame Maßnahmen getroffen werden. Zu guter Letzt gibt es auch noch Dinge, die nichts mit Geld zu tun haben und die dennoch das finanzielle Wohlbefinden beeinflussen. In einem unserer Versuche haben wir etwa herausgefunden, dass sich die Verwendung der Headspace-App und der Konsum von TED Talks, die sich mit dem Thema Achtsamkeit befassen, positiv auf das finanzielle Wohlbefinden auswirken. Wie eingangs bereits erwähnt, geht es schlussendlich um ein Leben ohne Sorgen.

ES Wenn man sich ansieht, in welch rasanter Geschwindigkeit sich die Welt um uns herum verändert: Was sollten wir inmitten all dieser Turbulenzen nicht aus den Augen verlieren?

LR Die Tatsache, dass Menschen Menschen sind, unabhängig davon, wie gebildet oder wohlhabend sie sind. Das Leben hält für uns alle unerfreuliche Überraschungen bereit: im Privatleben, aufgrund wirtschaftlicher oder politischer Veränderungen, Pandemien usw. Die Annahme, dass in erster Linie unterprivilegierte, wenig gebildete oder sonstwie vulnerable Bevölkerungsgruppen Interventionen im Bereich finanzielles Wohlbefinden benötigen, ist daher grob irreführend.

Wir alle können davon profitieren, über die Rolle von Sicherheit, Freiheit und Genuss in unserem Leben und ob wir etwas daran ändern möchten nachzudenken. Und in einer idealen Welt würden wir dabei auch die maßgeschneiderte Unterstützung bekommen, die wir brauchen. Ich selbst musste erst vor kurzem erleben, wie schnell man aus einer von hohem finanziellen Wohlbefinden geprägten Situation in eine Lage geraten kann, in der man dringend Unterstützung benötigt, um nicht in eine finanzielle Notlage zu geraten. Auch unsere Studie hat aufgezeigt, wie veränderte Lebensumstände das finanzielle Wohlbefinden völlig auf den Kopf stellen können.

Wir sollten jedoch auch nicht vergessen, dass nicht jeder Mensch den Wunsch hat, sein finanzielles Wohlbefinden zu verbessern. Es gab viele Teilnehmer:innen an unserer Studie, die mit ihrem Leben durchaus zufrieden waren und keinerlei Bedürfnis danach hatten, in irgendeiner Form aufgeklärt zu werden oder einen Schubs in eine bestimmte Richtung zu bekommen. Umso wichtiger ist es, Initiativen zur Verbesserung des finanziellen Wohlbefindens genau an die Personen anzupassen, die sich eine solche Unterstützung tatsächlich wünschen, und auch den richtigen Moment dafür zu erwischen. Ohne Frage stellt das sämtliche Akteure vor große Herausforderungen, denn all das ist leichter gesagt als getan.

Möchten Sie sich ins Thema vertiefen? Sesen Sie mehr im Bericht »Mehr als nur Geld – Was finanzielles Wohlbefinden für Menschen bedeutet«.

Titelbild: Merike Tamm