Journal
24. September 2025
Lesezeit: 8'

»Aus der ERSTE Stiftung ist in vielerlei Hinsicht ein Multitalent geworden.«
Nach insgesamt mehr als zehn Jahren, gibt Boris Marte Ende Oktober den Vorstandsvorsitz der ERSTE Stiftung ab. Als Berater bleibt er ihr mit all seinem Wissen und seiner langjährigen Erfahrung weiterhin eng verbunden. Es ist kein Abschied, aber eine persönliche Transformation – und sie fällt in eine Phase großer gesellschaftlicher Veränderungen. Zeit, um mit ihm darüber zu reden, wie sich die Welt verändert und mit ihr die Aufgaben der Zivilgesellschaft.
ERSTE Stiftung Die ERSTE Stiftung wurde 2003 gegründet und du hast sie mitkonzipiert. Seither hat sich die Welt sehr verändert. Worum ging es der Stiftung damals?
Boris Marte 2003 waren wir ein Verstärker. Es gab eine Dynamik, die ganze Welt schien in eine Richtung zu gehen. 14 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war Europa im Aufwind.
Die Wirtschaft wuchs, Demokratie war etwas Gutes für alle. Wir wollten einen Beitrag dazu leisten, diese Entwicklung nachhaltig zu verstärken.
ES Wie ging die Stiftung diese Aufgabe an?
BM Von Anfang an hatten wir das Gefühl, dem Wirtschaftsmotor auch eine inhaltliche Bestimmung zu geben, die den Menschen in den Vordergrund stellt. Wir haben Zentral- und Südosteuropa noch einmal für uns entdeckt. Überall sind uns neue Initiativen, junge Menschen, irrsinnig viel Hoffnung, Engagement und Modernität entgegengekommen. Wir wollten aus dieser Energie etwas machen, das Menschen zusammenbringt, und wo der lokale Zusammenhang zu etwas Europäischem wird.
ES Wo hast du diese Energie damals zum Beispiel bemerkt?
BM Die Wunden durch Diktatur, Kommunismus und Krieg lagen noch offen, aber die Hoffnung, dass die Demokratie das Heilen unterstützen kann, war spürbar. Als Stiftung wollten wir dabei unterstützen, den Versöhnungsprozess etwa am Balkan wirklich durch die Zivilgesellschaft zu verankern. Dort trafen wir auch einen damals ganz jungen Typen, Gerald Knaus, der ein Europe’s Futures Fellow ist und mit dem wir bis heute zusammenarbeiten. Mit ihm haben wir eine Fernsehserie über den Balkan gedreht. In Österreich hatten viele Menschen kein Bild davon, welche Aufbruchsstimmung es dort gab und wie junge Menschen sich eine soziale Perspektive in dieser Region aufbauten.
ES Die Erwartungen von Zentral-, Ost- und Südost-Europa an die EU waren groß. Heute hat man den Eindruck, dass sie enttäuscht wurden. Warum ist das so gekommen?
BM Für Menschen in der Region war Europa nicht in erster Linie ein Friedensprojekt wie in Westeuropa, aber eine Hoffnung. Viele Menschen haben 1989 und die Jahre danach auch erfahren, dass da nicht ausschließlich die freie, offene Welt kommt, sondern oft auch ein entfesselter Kapitalismus, der keine wohlfahrtstaatliche Absicherung kennt. Da haben wir als Stiftung angeknüpft.
Uns ist aufgefallen, dass wir alle aufpassen müssen, wie wir dieses Europa bauen, weil die Vorstellungen und Erwartungen sehr unterschiedlich sind. Als Stiftung haben wir viel Arbeit investiert, um ein originäres Bild von Europa zu entwickeln. Das ist nur partiell gelungen.
ES Die allgemeine Entwicklung geht heute nicht in die Richtung eines starken Europas und starker Demokratien. Was heißt das für die ERSTE Stiftung?
BM Dass sie Flagge zeigen muss. Der Wind hat sich gedreht, aber an unseren Werten und Prinzipien hat sich nichts geändert. Wir sind immer noch dem Menschen verpflichtet, der Würde des Einzelnen, die am besten durch Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gesichert werden kann. Als Zivilgesellschaft müssen wir uns auch fragen, was uns da durchgerutscht ist, dass der Glaube an diese Werte bröckelt. Ich glaube, dass das viel mit Emotion zu tun hat.
ES Populistische und autoritäre Strömungen sind gut darin geworden, Emotionen aufzugreifen?
BM Der Zivilgesellschaft ist es nicht mehr gelungen, für ihre Werte und Überzeugungen auch mit der richtigen Emotion einzustehen. Emotion war immer das, was uns als Stiftung entgegengekommen ist. Wir haben diese Kraft immer gelebt. Es ist uns gelungen, Netzwerke, Partner, Initiativen, Institutionen, NGOs zu finden, mit denen wir gemeinsam Idee und Strategien entwickelt haben. Da war Energie, Emotion und das Selbstverständnis, dass das lokale Wissen und Verständnis im Fokus steht. So ist zum Beispiel die kuratorische Arbeit mit den Tranzit Offices entstanden, immer lokal. Und so sind auch die Social Banking Initiativen aufgesetzt. Wir stülpen nicht ein System über alles drüber. Und heute können wir das, was wir retten wollen, auch nicht vom Schreibtisch aus retten.
ES Was ist stattdessen zu tun?
BM Wir müssen rausfahren, hinschauen und gemeinsam mit vielen Menschen wieder Gemeinsamkeiten und Ideen lokalisieren. Von dort weg kann man dann auch wieder neu denken. Das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft ist nicht mehr sehr stark. Es wieder aufzubauen, ist das Gebot der Stunde. Dann werden wir auch wieder Gemeinsames erspüren und Energie, und das könnte das Alternativkonzept zu all dem sein, das uns täglich über das Handy auf uns eindonnert. Das ist die grundlegende Aufgabe der Zivilgesellschaft.
ES Und was ist die Aufgabe der Stiftung?
BM Dass sie nicht stehenbleiben darf, aber standhaft bleiben muss. Ich glaube, wir müssen viele Dinge, die uns ans Herz gewachsen sind, ein Stück weit auch neu erfinden und nicht nur feintunen, was oft die Antwort der rationalen Welt ist. Das wird nicht reichen.
Und wir müssen verteidigen, was wichtig ist. Mit der Rede an Europa versuchen wird das. Dahinter steckt die Idee, dass einmal im Jahr, am Europa-Tag, vor dem Holocaust Mahnmal in Wien jemand seine Stimme erhebt und eine rote Linie zieht. Bis hierhin und nicht weiter. Wenn uns die Würde des Einzelnen am Herzen liegt, sind rote Linien wichtig. Europa neu zu denken, das wird auch die Aufgabe der Europe’s Futures Initiative sein, die wir derzeit in Wien gründen.
ES Die Stiftung arbeitet mit vielen Partnern zusammen und das in ganz unterschiedlichen Sektoren und Zusammenhängen. Wie gelingt das?
BM Es ist ihre besondere Stärke, dass sie andere Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, die sich auf einzelne Themen und Aufgaben spezialisiert haben, über Landes- und Sprachgrenzen hinweg miteinander verknüpfen kann. Deshalb sind mir die Kunst und Kultur auch immer so wichtig. Sie ist die Sprache, die alle verstehen oder verstehen können. Sie ist eines der Talente der Stiftung dafür, anders an Lösungen heranzugehen.
Ein weiteres Talent ist es, die richtigen Leute sektorenübergreifend an einen Tisch zu bringen. Aus der ERSTE Stiftung ist in vielerlei Hinsicht ein Multitalent geworden. Ganz am Anfang trafen wir uns mit NGOs, und das war nicht gleich erfolgreich. Aber als wir nicht nur die Führungsebene, sondern auch die Leute in der Beratung und Streetworker dazu holten, erfuhren wir, dass NGOs in den Beratungsstellen Kassen aufmachen mussten, weil viele Menschen, die zu ihnen kommen, keine Konten hatten. Das war die Geburtsstunde der Zweiten Sparkasse.
ES Und wie war das bei Kontakt, der Kunstsammlung der Stiftung?
BM Bei unseren Reisen durch die Region, haben wir gesehen, dass die Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die zur Zeit des Kommunismus Dissidenten waren, teils in Kühlschränken oder unterm Bett gelagert wurden. Das war Kunstgeschichte und Europa drohte, sie zu verlieren, weil sich niemand für dieses Erbe interessierte. Wir haben dann angefangen, genau dieses Erbe zu sichern und die Sammlung und die Dokumentation der Werke durch Kontakt aufzubauen. Ich könnte noch hunderte Beispiele nennen.
ES Bei diesen Beispielen geht es immer auch um Respekt, oder?
BM Um Respekt und Vertrauen. Wir haben als Stiftung sehr oft gezeigt: Wir sind mit euch. Ich glaube, dass dieses Gefühl unseren Gesellschaften heute oft fehlt. Also muss man wieder andere Kontexte schaffen, wo dieses Gefühl und Vertrauen erneut möglich werden. Diese Haltung müssen wir uns immer wieder neu erarbeiten. Damit wird sie zum Vorbild in alle Richtungen.
ES Viele Menschen überfordern die zahlreichen und andauernden Krisen, die Ungewissheit, die über allem liegt. Einige resignieren auch. Du gehörst nicht dazu.
BM Ich glaube, dass es da draußen sehr viel Gutes gibt und Gutes entstehen kann. Es sind immer die kleinen Freundschaften, die kleinen Gruppen, die etwas bewirken können. Es ist nie die große Geste. Lebt eure Freundschaften, baut eure Welt von dort weg. Das sage ich auch meinen Kindern. Seid gut zueinander und findet den Weg von dieser Freundschaft aus.
Es sind die scheinbaren Nebenschauplätze, wo etwas Gutes und etwas Neues entsteht. Da muss man genau hinschauen und zuhören.
Die Leitung der Stiftung liegt bei den verbleibenden Vorstandsmitgliedern Gudrun Egger, Wolfgang Schopf und Martin Wohlmuth.