Ausstellung: »Everything for Everybody«
Kyiv Biennial 2025

23. Oktober – 7. Februar 2026
Dnipro

Auch wenn wir im Archiv nach Antworten suchen, so hält es doch nur eine sehr fragmentarische Aufzeichnung der Vergangenheit bereit – geformt durch die Prioritäten und Vorurteile, die Obsessionen und Fantasien jener, die vor uns kamen. Durch die Politik der Auswahl und Aussonderung halten Archive eine Hierarchie kultureller Werte aufrecht. Es werden Entscheidungen darüber getroffen, was kulturell bedeutsam – und damit erhaltenswert – ist und was als historischer Müll verworfen wird. Doch wenn Archivierung ein exkludierendes Instrument sein kann, so kann es in anderen Händen auch befreiend wirken. Außerhalb institutioneller Strukturen können gemeinschaftsgetragene Archivpraktiken dem Vergessen entgegenwirken und kulturelle Präsenz sowie Zugehörigkeit erhalten. In Zeiten von Krieg und Krise gewinnt diese Arbeit an Dringlichkeit. Während Archive besetzt, vertrieben oder gezielt zerstört werden, haben sich Communities der Dokumentation gefährdeter Realitäten verschrieben. In dieser veränderten Archivlandschaft geht vieles verloren – doch etwas Wesentliches wird auch gewonnen: Die singuläre Autorität des Archivs weicht einer Vielstimmigkeit, die Raum für neue Formen der Geschichtsschreibung schafft.

Die Ausstellung »Everything for Everybody« im Rahmen der Kyiv Biennale 2025 im Dnipro Center for Contemporary Culture nimmt zwei Archive aus dem Vereinigten Königreich und der Ukraine als Ausgangspunkt – zusammengeführt durch ein Projekt des British Council: die Franki Raffles Photography Collection an der University of St Andrews und das fotografische Archiv von Mykola Bilokon im Historischen Museum Pokrovsk. Die fotografischen Arbeiten von Raffles und Bilokon drehten sich vor allem um jene Communities, mit denen sie sich verbunden fühlten. Und trotz der räumlichen und kontextuellen Distanz, die zwischen beiden lag, bestand ihr gemeinsames Interesse an der Dokumentation des Lebens der Arbeiterklasse, an geschlechtsspezifischer Arbeit und der sich wandelnden politischen Landschaft am Ende des Sozialismus. 1989 reiste die in Edinburgh ansässige Raffles mit ihrer kleinen Tochter in die Sowjetunion (einschließlich der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik), um Gemeinsamkeiten zwischen den Kämpfen arbeitender Frauen in Schottland und der UdSSR auf den Grund zu gehen. Sie fotografierte Arbeiterinnen in Fabriken, Krankenhäusern, auf Baustellen und Feldern. Neu entstand daraus die Serie ›Soviet Women‹ – ein linker Traum vom idealen und emanzipierten sozialistischen Individuum. Dieses Streben nach dem ›Ideal‹ zeigt sich auch in Bilokons Fotografien von Held:innen der Arbeit in der Industrie und ich Kolchosen. Während seiner Zeit als Korrespondent der Lokalzeitung Maiak (Leuchtturm) in Pokrovsk (damals Krasnoarmiisk), hält Bilokon mit seinen Arbeiten die ideologische Agenda der damaligen Zeit fotografisch fest.

Dnipro Center for Contemporary Culture / DCCC, Krutohirnyi Uzviz (Descent), 21A, Dnipro

Öffnungszeiten: Dienstag–Samstag, 10:00 – 19:00

Diese Sammlungen laden zur weiteren Reflexion ein: Wie entstehen Archive? Wer hat Zugang zu ihren Inhalten und wer kontrolliert ihre Deutung? Welche Rolle spielt ein Archiv in Kriegszeiten? Wie legen Archive Zeugnisse jener Orte ab, die verschwunden oder zerstört worden sind? Vor dem Hintergrund dieser Fragen steht die Realität des Krieges. Ein Krieg, in dem das Heimatmuseum von Pokrovsk – das Bilokons Vermächtnis verwaltet – evakuiert wurde. In einer Stadt, an deren Rändern seit Monaten Kampfhandlungen toben. In diesem Kontext liest sich der Ausstellungstitel »Everything for Everybody« – ein Satz aus dem Archiv von Raffles – sowohl als Versprechen als auch als Provokation: Wessen Geschichten archivieren wir heute, und für wen? Anstatt abschließende Antworten zu geben, zielt diese Ausstellung darauf ab, einen Raum zu eröffnen, in dem vielfältige künstlerische Praktiken aufeinandertreffen, die sich mit Archivmaterialien, Familiengeschichten und dokumentarischer Arbeit auseinandersetzen. Um diesen Dialog zu fördern, erschien es uns wichtig, über die Grenzen der Ukraine hinauszublicken – auf andere Kontexte und geografische Räume, die mit Verlusten, den Überresten kolonialer Vergangenheiten und gewaltsamen Vermächtnissen umgehen.

Teilnehmende Künstler:innen: Katya Buchatska, Sophia Gera and Kamila Yanar, Lia Dostlieva, Ola Yeriemieieva, Olesia Kashyvska, Yana Kononova, Tetiana Kostiuchenko, Elias Parvulesco, Adrian Pepe, Clemens Poole, Anhelina Rozhkova, Selma Selman, Tako Taal, Valeriia Fedorenko

Kuratorinnengruppe: Victoria Donovan, Kateryna Rusetska, Natasha Chychasova

Die Kyiv Biennial ist ein internationales Forum für Kunst, Wissen und Politik, das Ausstellungen und Diskussionsplattformen organisiert. Gegründet und organisiert vom Visual Culture Research Center in Kyjiw verfolgt die Biennale eine interdisziplinäre Perspektive an der Schnittstelle von Geisteswissenschaften, sozial engagierter Kunst und politischem Aktivismus, um zentrale Probleme der Gegenwart zu reflektieren. Die diesjährige Ausgabe findet in mehreren Städten in der Ukraine und Europa statt – darunter Warschau, Antwerpen, Dnipro, Kyjiw und Linz. Ziel der Biennale ist es, einen Raum für Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und internationalen Künstler:innen, für kritische Auseinandersetzung mit drängenden politischen Fragen und für Widerstand durch die Kunst zu schaffen.