Eine ständige Bürger:innenversammlung für Europa startet in Wien

Nach Treffen in Athen, Florenz und im digitalen Raum kam die nomadische Bürger:innenversammlung für Europa Ende Mai mit Unterstützung der ERSTE Stiftung in Wien zusammen, um ihren ersten Bericht abzuschließen: »Eine Bürger:innencharta zur Stärkung der Demokratie in Europa durch gemeinsames Meistern zukünftiger Krisen«. 300 in Europa lebende Menschen, per Losverfahren ausgewählt, um eine möglichst große Vielfalt an geografischen Hintergründen und Staatsbürgerschaften abzubilden, arbeiteten neun Monate lang gemeinsam daran, ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Krisen – von globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Covid-19-Pandemie über strukturelle Probleme wie wachsende Ungleichheit oder mangelnde Investitionen bis hin zu akuten Krisen wie Krieg – zu reflektieren. Ziel war es, Wege zu finden, wie die Demokratie in Europa auf allen Ebenen – lokal, national und transnational – gestärkt und weiterentwickelt werden kann. Gemeinsam erarbeiteten sie, welche positiven Ansätze aus Krisenzeiten bewahrt werden sollten, was sich dringend ändern muss, welche Prinzipien den Wandel leiten sollen und welche konkreten Schritte dafür notwendig sind. Entstanden ist nicht nur eine Charta, die von politischen Institutionen, öffentlichen Einrichtungen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Gruppen praktisch genutzt werden kann – die Teilnehmenden erprobten zugleich ein innovatives Modell einer Bürger:innenversammlung.

Die letzte Etappe dieses ersten Zyklus in Wien war in gewisser Weise eine Rückkehr zu den Anfängen. Eine der ersten Ideen für eine ständige Bürger:innenversammlung entstand im Februar 2020 – ebenfalls in Wien – während meines Europe’s Futures Fellowship am IWM, in Kooperation mit der ERSTE Foundation, zu Beginn der Covid-19-Pandemie. Der provokante Titel »Give Strasbourg to the Citizens« schlug vor, einen der Sitze des Europäischen Parlaments dauerhaft einer Bürger:innenversammlung zu überlassen. Gemeinsam mit Alberto Alemanno (ebenfalls später Fellow), Kalypso Nicolaïdis und mir entstand ein offener Brief mit der Forderung, die 2020 beginnende Conference on the Future of Europe müsse ein echtes Instrument der Bürger:innenbeteiligung werden – und kein technokratisches Feigenblatt. In dieser Zeit gründete sich auch das zivilgesellschaftliche Bündnis Citizens Takeover Europe, mit dem Ziel, die partizipative und direkte Demokratie in Europa nachhaltig und verantwortungsvoll weiterzuentwickeln.

Foto: Elisa Massara / European Alternatives

Aus diesen frühen Impulsen entstand die Idee eines Pilotprojekts für eine ständige Bürger:innenversammlung – wir nannten dieses Vorhaben die Democratic Odyssey. In enger Zusammenarbeit mit dem European University Institute, zahlreichen Partnerorganisationen sowie hunderten Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen aus dem Bereich der Deliberation wurde ein einzigartiges Modell entwickelt, das:

  1. Europa in die Städte bringt – Eine nomadische Versammlung, die sich mit lokalen Initiativen vernetzt und europäische Themen in den Alltag der Menschen trägt.
  2. Hochgradig inklusiv ist – Teilnehmende kommen aus dem erweiterten Europa, darunter auch aus EU-Beitrittsländern. Eingeladen sind nicht nur Bürger:innen, sondern auch Geflüchtete und Menschen ohne europäische Staatsbürgerschaft. Im Zentrum stehen Fürsorge und Verantwortung.
  3. Dauerhaft angelegt ist – Die Versammlung soll kontinuierlich bestehen, um aus Erfahrungen zu lernen, Empfehlungen nachzuverfolgen und langfristig Wirkung zu entfalten. Die Mitglieder wechseln, die Institution bleibt.
  4. Ein deliberatives Ökosystem für Europa fördert – Die Versammlung vernetzt sich mit anderen Initiativen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene sowie mit sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Kampagnen.
  5. Raum für Experimente bietet – Künstlerische und körperlich erfahrbare Formen der Deliberation werden ebenso erprobt wie digitale Tools zur Unterstützung des Austauschs.

Auch das Treffen in Wien spiegelte all diese Elemente wider. Die Versammlung kooperierte mit der Stadt Wien – derzeit European Capital of Democracy – insbesondere mit dem Vienna Office for Participation, um Möglichkeiten der Bürger:innenbeteiligung in Wien zu stärken und mit europäischen Initiativen zu verknüpfen. Wien wurde bewusst gewählt: eine Stadt mit vielen Menschen ohne Wahlrecht – ein Ort, an dem alternative Formen der Mitbestimmung besonders wichtig sind. Eingebettet in die Wiener Festwochen, fanden neben der eigentlichen Versammlungsarbeit auch öffentliche Diskussionen mit protestierenden Studierenden aus Serbien und Vertreterinnen der Frauenbewegung in Rojava statt. Die Versammlung selbst integrierte theatralische Elemente, künstlerische Übungen, digitale Abstimmungs- und Kommentartools sowie Dolmetschung in Gruppen- und Plenarsitzungen, um allen eine gleichberechtigte Teilnahme zu ermöglichen.

Nun, da der erste Zyklus abgeschlossen ist, stehen die nächsten Schritte an: Die Citizens Charter soll Entscheidungsträger:innen auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene übergeben werden. Gleichzeitig sollen Bürger:inneninitiativen vor Ort die Umsetzung begleiten. Ziel ist es, die Institutionalisierung einer ständigen Bürger:innenversammlung voranzutreiben – und die Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt weiterzugeben und auszubauen. Wer Teil dieser Reise werden möchte, kann sich hier anmelden.

Autor: Niccolò Milanese, Vorsitzender der European Alternatives

Foto: Elisa Massara / European Alternatives

Titelbild: Elisa Massara / European Alternatives