Journal
26. November 2025
Lesezeit: 4'
Drei Fragen an Veronica Anghel
Veronica Anghel ist Assistenzprofessorin am Robert Schuman Centre for Advanced Studies am European University Institute, Gastprofessorin am College of Europe und Alumna des Europe’s Futures Fellowship-Programms.
ERSTE Stiftung Im Rahmen des Time to Decide Europe Summit 2025 nehmen Sie an einer Podiumsdiskussion darüber teil, wie Europa auf die tiefgreifenden Veränderungen in den transatlantischen Beziehungen unter der zweiten Amtszeit von Donald Trump reagieren sollte. Abgesehen von den Debatten um mehr Souveränität und Autonomie – welche konkreten Entscheidungen muss Europa zur Wahrung seiner Interessen Ihrer Meinung nach jetzt treffen, ohne dabei seine Grundwerte aus den Augen zu verlieren?
Veronica Anghel Das größte Risiko für die EU unter Donald Trump ist nicht der Rückzug der USA aus Europa. Viel größer ist die Gefahr, dass Amerika unter einer Flut von rücksichtslosen außenpolitischen Entscheidungen, dem Abdriften des Landes in den Autoritarismus und dem desaströs geführten Kollisionskurs mit China zusammenbricht. Es wird Zeit brauchen, 100.000 US-Soldaten, den nuklearen Abschreckungsschirm und Teile des nachrichtendienstlichen Aufgabenspektrums zu ersetzen, aber Europa ist in der Lage, die dafür nötige Infrastruktur zu schaffen: die Logistik. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, in die großen Fußstapfen der USA zu treten: sich kompromisslos für Demokratie und Recht einzusetzen, die Weltordnung dort zu stützen, wo sich Washington zurückzieht, und eine Eskalation zwischen den USA und China zu verhindern. Während die Hegemonialmacht ihren Selbstzerstörungskurs fortsetzt, ist es an der EU, besonnen die Führung zu übernehmen. In diesem Jahrhundert ist Europa die unverzichtbare Nation.
»Das größte Risiko […] ist die Gefahr, dass Amerika unter einer Flut von rücksichtslosen außenpolitischen Entscheidungen, dem Abdriften des Landes in den Autoritarismus und dem desaströs geführten Kollisionskurs mit China zusammenbricht.«
ES Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Identität Europas infrage gestellt wird: Liberale Werte stehen illiberalen Tendenzen, Souveränität einer gegenseitigen Abhängigkeit gegenüber. Sie sprachen von Europa als geopolitischer Macht. Wie gestaltet sich angesichts dieser Spannungen Ihrer Meinung nach die Neudefinition der Rolle Europas in der Welt, und was bedeutet das für den inneren Zusammenhalt und die Glaubwürdigkeit Europas auf internationaler Ebene?
VA Europa ist bereits eine geopolitische Macht – beinah zufällig haben die Europäer mit der EU eine Krisenmanagerin geschaffen, die für ein Jahrhundert der Zersplitterung prädestiniert ist. Die Macht der EU entwickelte sich aus ihrem kontinuierlichen Kampf gegen nationalistische Bewegungen und ignoranten politischen Opportunismus. Die EU ist Chinas schärfste ideologische Gegnerin, die einzige glaubwürdige demokratische Verbündete der USA, ein weitläufiges Netzwerk diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen, darauf ausgelegt, Dialog und Lernprozesse zu ermöglichen, ein globales Regulierungszentrum, das nicht nur Märkte, sondern ganze Regionen verbinden kann, und ein Hort ungenutzter globaler Soft Power. Europa ist der sicherste und lebenswerteste Ort der Welt, bekannt für die Triumphe und Tragödien, die sein weltweites Vermächtnis prägen. Institutionen zur Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft – Sicherheit, Klima und digitale Gemeingüter – gibt es bereits.
ES Als Absolventin des Europe’s Futures Fellowship-Programms und eines der ersten Mitglieder der neuen Europe’s Futures Initiative (EFI) werden Sie deren Mission aktiv mitgestalten. Die Initiative wird ihren Sitz in Wien haben, einer Stadt, die seit jeher eine Brücke zwischen Ost und West bildet. Warum ist es wichtig, dass Wien zum Sitz der EFI wird, und was symbolisiert dieser Standort für die Zukunft Europas?As a Europe’s Futures alumna and one of the first members of the new Europe’s Futures Initiative (EFI), you will help shape its mission. EFI will be based in Vienna, historically a bridge between East and West. Why is it important that Vienna becomes the home of EFI and what does this location symbolise for Europe’s future?
VA Wien ist ein Ort, wo Weltreiche aufeinanderprallten, Grenzen verschoben wurden und Kriege endeten – und wo der Ost-West-Dialog selbst während des Kalten Krieges nie völlig zum Erliegen kam. Mit der Ansiedlung der EFI setzen wir ein Zeichen, dass die Weichen für die Zukunft Europas nicht nur in seinem sicheren Zentrum, sondern auch an seinen Bruchlinien gestellt werden. Wien verbindet Brüssel mit Kyjiw, Berlin mit dem Balkan, Wissenschaftler mit Diplomatinnen. Es verkörpert das, was Europa jetzt am nötigsten braucht: einen Ort, der jeder Seite Gehör schenkt und sich einer dauerhaften Spaltung verweigert.